Vortrag 1999 in Regensburg im Rahmen des 1. Regensburger Symposiums "Therapeutisches Reiten"

 


Hippotherapie – ein Bestandteil der neurologischen Rehabilitation

von Kindern und Jugendlichen

 

 

Vorstellung der eigenen Person und des Behandlungszentrum Vogtareuth Neuropädiatrie:

In der neuropädiatrischen Abteilung werden Säuglinge, Kinder und Jugendliche mit allen Arten von neurologischen Erkrankungen diagnostiziert und behandelt.

Besondere Schwerpunkte sind die Frührehabilitation nach erworbenen Schädigungen des zentralen und peripheren Nervensystems, Entwicklungsneurologie und Epileptologie.

In Zusammenarbeit mit der am Haus befindlichen Abteilung Neurochirurgie wurde in jüngster Zeit der Bereich pädiatrische Epilepsiechirurgie und prächirurgische Epilepsie-Diagnostik errichtet.

Insgesamt verfügt die Abteilung über 70 stationäre Betten; welche organisatorisch auf drei Stationen verteilt sind.

Verteilung der Betten: 10 Betten Frühreha, 20 Betten Reha, 10 Betten Epi-Diagn., 20 Betten allg. Neuro, 10 Betten SHT

 


 

Meine Damen und Herren,

lassen sie mich meinen Vortrag mit einer Frage beginnen:

Was suchen wir, die wir mit Kindern arbeiten, denn täglich in der Therapie?

Wir suchen einen Rahmen für unsere kleinen Patienten, welcher sie nach

Möglichkeit stets aufs Neue motiviert, der aber trotz allem die Bedingungen und Anforderungen einer nachvollziehbaren krankengymnastischen Behandlung widerspiegelt, und das Ganze noch unter einem "Ganzheitlichen Gesichtspunkt".

Ihr Einverständnis vorausgesetzt, betrachte ich diese drei Säulen der pädiatrischen Rehabilitation einmal getrennt und unter dem Blickwinkel der Hippotherapie.

Mir ist selbstverständlich klar, daß bei einer umfassenden Rehabilitation auch noch andere Faktoren zum Tragen kommen, außer den oben genannten.

Zudem stehe ich allen allumfassenden Therapiemethoden, Systemen oder vielleicht besser formuliert allen zur Religion stilisierten Methoden und Konzepten kritisch gegenüber. Denn unabhängig vom tatsächlichen Nutzen für den Patienten in der aktuellen Situation, haben fast alle Verfechter einer solchen Richtung die Tendenz zu einem eingeschränkten Gesichtsfeld.

Diese rigide Wahrnehmung der therapeutischen Umwelt führt dann auf Dauer ins medizinische Abseits, und das können wir in rehabilitativen Einrichtunge weiß Gott nicht gebrauchen.

Der Titel meines Vortrages ist also ganz bewußt gewählt.

Die neurophysiologische krankengymnastische Behandlung auf dem Pferd ist aus meiner Sicht ein sinnvoller Bestandteil in der, und hier möchte ich einen Begriff einflechten, den mein leider sehr früh verstorbener Chef, Herr Dr. Laub geprägt hat, ein sinnvoller Bestandteil der systemischen Neurorehabilitation von Kindern und Jugendlichen.

Auf diesen Begriff möchte ich noch ganz kurz eingehen. Das Ziel unserer Bemühungen in Vogtareuth ist es die erreichten Ergebnisse mittel- und wenn möglich langfristig im Rahmen des sozialen Umfeldes (für gewöhnlich die Familie) zu sichern und zu stabilisieren.

Um dieses umzusetzen reicht es aber häufig nicht allein, nur die Familie (Eltern, Geschwister, Oma, Opa) in die Behandlung mit einzubeziehen, sondern es ist notwendig diesem kleinsten sozialen Baustein eine tragfähige Basis zu ermöglichen. Dazu ist es dann innerhalb der Rehabilitation notwendig im Team und ganzheitlich zu arbeiten.

Ganzheitlichkeit im Sinne des Kindes, das Kind in seinem sozialen Umfeld in Hinblick auf Selbstkompetenz und Autonomie (gegebener Rahmen) zu fördern. Ganzheitlichkeit nicht im Sinne von therapeutischer Orientierungslosigkeit.

Nun zurück zu meiner obigen Aussage. Die neurophysiologische krankengymnastische Behandlung auf dem Pferd ist aus meiner Sicht ein sinnvoller Bestandteil in der systemischen Neurorehabilitation von Kindern und Jugendlichen.

Im Folgenden werde ich versuchen diese Aussage zu untermauern.

Motivation:

Bei Kurzzeitbehandlungen (1-2/Woche für ca. 2 Monate) mag man mit klassischen Behandlungssituationen, bei zumindest etwas älteren Patienten auch problemlos Erfolge erzielen, bzw. keine Ermüdungserscheinungen bemerken. Aber bei Kindern mit neurologisch begründbarer Leistungseinschränkung können wir kaum von Kurzzeitbehandlungen sprechen.

Zumeist haben die Kleinen auch eine recht erhebliche Karriere als Patient hinter sich. Was sich für uns in der Behandlung als Unlust oder Motivationslosigkeit bemerkbar macht.

Reiten als Therapie (Motivation)?

Dem Reiten haftet noch immer der Ruf an ein elitärer Sport, eine kostspielige Vergnüglichkeit zu sein. Das mag für einen kleinen bestimmten Kreis der Pferdebesitzer auch gelten. Aber meine Damen und Herren sehen sie sich doch einmal in den Reitställen um, wer kümmert sich dort denn im wesentlichen um die Tiere – die Kinder und Jugendlichen, mit unglaublichem Einsatz und Aufwand, der viele Eltern in Hinblick auf Schule und häusliche Tätigkeiten beängstigen mag.

Für viele Kinder ist es einfach ein Traum, sich um ein Pferd zu kümmern, oder gar zu reiten. Dieser Traum scheint den meisten Kindern wohl mit in die Wiege gelegt worden zu sein. Woher sonst soll diese starke Affinität ausgerechnet zu diesem Tier herrühren, denn sie zieht sich durch alle sozialen Schichten mit und ohne vorherigem Kontakt.

Doch ich möchte mich jetzt nicht in unwissenschaftlichem Philosophieren verlieren. Nur soviel noch, wieso sollte so ein Traum vor Behinderungen halt machen, noch dazu wenn der therapeutische und psycho-soziale Nutzen erkennbar ist?!

Wir erleben es immer wieder, das unsere Kinder in Remissionsphasen z.T. auch motivationsbedingt stecken bleiben und in Folge eines neuen Impulses wieder voranschreiten. Die Kleinen sprechen in diesem Fall natürlich nicht von Hippotherapie oder Krankengymnastik, sie sprechen vom Reiten und das ist auch gut so. Wir haben dadurch ein äußerst subtiles Instrument an der Hand (im wahrsten Sinne des Wortes an der Hand) durch welches die Kinder nicht merken, daß sie bis an ihre Leistungsgrenzen geführt werden.

 


Neurophysiologische Behandlung:

Verweise auf diverse Arbeiten

Sonderheft Hippotherapie 1996:

Hippotherapie bei dyskinetischen, dystonen Bewegungsstörungen

Rommelklinik Bad Wildbad

(PD Dr. med. Thomas Rommel, Dr. med. Oliver Rommel, Dr. med. Eckhard Peterson)

"Zumindest temporär gelingt es mit der Hippotherapie, dystone, unkontrolliert ablaufende Haltungs- und Bewegungsmuster zu kontrollieren, abnorme Haltungs- und Stellreaktionen zu hemmen, das koordinative Zusammenspiel der Muskulatur im Sinne einer den Umweltbedingungen angemessenen Bewegungs- und Haltungsplanung zu trainieren und die funktionelle Abstimmung hinsichtlich der räumlichen und zeitlichen Ordnung zu kontrollierten Bewegungsprogrammen im Sinne der Willkürmotorik zu entwickeln."


 

Hippotherapie bei Multiple-Sklerose-Kranken

Institut für Normale und Pathologische Physilogie der Universität Witten/Herdecke

(Prof.Dr. E. David, Dr. M. Pfotenhauer, Dipl. – Sportlehrerin Frau Anja Weber)

"Zunächst werden Charakteristika der Hippotherapie , die Bestandteil des Therapeutischen Reitens ist, sowie das Krankheitsbild der Multiplen Sklerose dargestellt. Trotz verschiedener wissenschaftlicher Ansätze zur Objektivierung der Hippotherapie bei neurologischen Erkrankungen fehlt es in vielen Kreisen, z.B. bei den Kostenträgern, an Akzeptanz. Bei einer Studie mit MS-Patienten und einer Vergleichsgruppe gesunder Probanden wurde versucht, mit Hilfe der Elektromyographie und Beschleunigungsmessungen in Körperschwerpunktnähe die Wirkung der Hippotherapie auf das eingeschränkte Gehvermögen der Patienten zu untersuchen. Die qualitative und quantitative Auswertung ergab unter Berücksichtigung des allgemeinen Gangbildes sowie der Symptome Adduktorenspastik und Ataxie bei sechs der neun MS-Erkrankten einen physiologisch-therapeutischen Effekt."


 

Die Wertigkeit der Hippotherapie in der Behandlung Cerebralparetischer und Mehrfachbehinderter Kinder

Ambulatorium für entwicklungsgestörte Kinder, Jugendliche und Erwachsene der Lebenshilfe / UNI Salzburg

(Dr.med. Liselotte Ölsböck)

"Die Wertigkeit der Hippotherapie wird an Hand der physikalischen , physiologischen und psychologischen Wirkungsfaktoren aufgezeigt und mit anderen neurophysiologischen Methoden verglichen. Betont wird, daß die Hippotherapie eine ganzheitliche (multifaktorielle) Therapie darstellt und daher besonders bei Kindern und Jugendlichen mit ICP, die multifaktorielle Probleme haben, erfolgreich ist. Die Begründung dafür wird in der Beeinflussung der eng verwobenen Steuerungsvorgänge des ZNS gesehen, wodurch es zur Verbesserung von Funktion, Leistung und Wohlbefinden kommt."

 

 


 

 

Komponenten aus verschiedenen Methoden finden sich wieder

 

Bobath-Konzept:

Inhibition (Hemmung):

Reitsitz, Dehnstellung, ABD AR

Facilitation (Bahnung):

Gangbild Schritt, ab Hüfte aufsteigend

Stimulation (Initiieren):

Taktil bei Bedarf an den Schlüsselpunkten, propriozeptiv (über Rezeptoren) und vestibulär (über den Gleichgewichtssinn) permanent.


PNF

Propriozeptive Neuromuskuläre Facilitation:

(Bahnung von Bewegungen über die funktionelle Einheit von Nerv und Muskel)

Pattern (Bewegungsmuster) werden in verschiedenen Techniken ausgeführt. Der Bezug zur Hippotherapie kann über die Technik Rhythmische Bewegungseinleitung bei Rumpfpattern (Scapula – Pelvis – Pattern) hergestellt werden.


Feldenkrais

Erkennen und Bewußtmachen von Bewegungsabläufen wodurch es zu neuer bzw. bewußterer Körper- und Umwelterfahrung kommt. Durch spielerisches probieren von motorischen Alternativen werden unphysiologische Sterotypien in Frage gestellt.


SI

Sensorische Integration (SI) ist ein neurophysiologischer Prozeß, bei dem Sinnesinformationen

geordnet, kombiniert, interpretiert und so nutzbar gemacht wird für jede unserer Handlungen.

Eine wichtige Grundlage bilden dabei die Körpersinne:

Berührungssinn (taktil)

Stellungs-, Bewegungs- und Kraftsinn (propriozeptiv)

Gleichgewichtssinn (vestibulär)


PM

Psychomotorik eine Methode zur Förderung der Persönlichkeitsentwicklung von Kindern.

Gestörte kindliche Wahrnehmung kann zu unangepaßten Handlungen führen, mit entsprechender Reaktion der Umwelt. Über die Förderung von sensorischen, motorischen, geistigen und sozialen Fähigkeiten wird in den Circulus virziosus Handlung – Umweltreaktion eingegriffen.

Ein wesentlicher Bestandteil dabei ist eine freudige Bewegungserfahrung sowie die Erfahrung von Rhythmus und Entwicklung des eigenen Bewegungsrhythmus.


Hippospezifische Wirkungen:

Förderung der Posturale Kontrolle (Fähigkeit den Körper im Gleichgewicht zu halten) unter dynamischen Bedingungen. D.h. die permanente neuromuskuläre Kompensation von geplanten, gerade durchgeführten bzw. zu erwartenden motorischen Handlungen mit dem Ziel das Gleichgewicht zu behalten.

Rhythmus der Bewegung

Der dreidimensionale und gleichförmige Bewegungsdialog zwischen Kind und Pferd vermittelt dem Kind die Erfahrung von Rhythmus und Geschmeidigkeit der Bewegung (Grundvoraussetzung für ökonomisches Bewegungsverhalten).

Trainingseffekt für den OK im Gehen

Bei inkompletten oder passageren Querschnittssymptomatiken ermöglicht die Hippotherapie dem nicht betroffenen Körperregionen sich ihre mot. Kompetenz in bezug auf das Gehen zu erhalten.

Tonusregulation (funktioneller Normotonus)

in Funktion und Handlungsbereitschaft

 

Ganzheitlicher Ansatz:

Unterstützung von logopädischen Zielsetzungen

Aufrichtung, orofaciale Tonusregulation, Mundschluß, Ökonomie der Atmung

Unterstützung von ergotherapeutischen Zielsetzungen

Handlungsplanung, Selbstorganisation

Unterstützung von neuropsychologischen Zielsetzungen

Konzentration, Merkfähigkeit

Unterstützung von pädagogischen Zielsetzungen

Kooperation, Verantwortung,

 

 

 

Kostenfrage

Personalaufwand in der Neurorehabilitation

(Gegenüberstellung Personalbedarf Hippotherapie in Bezug zur Zeit, Qualitätssicherung, Dokumentation, Fortbildung, Reflektieren, Hinterfragen)

 

Patientenzahlen:

Vogtareuth seit 1996 ca. 80 Patienten bei etwa 700 Einzelbehandlungen

Kinderklinik Aschau seit 1996 ca. 40 Patienten bei etwa 600 Einzelbehandlungen

Behandlungszahlen gesamt: 1300

 


 

 

Schluß mit den Worten von Prim.Univ.Doz. Dr. ErnstBerger vom Neurologischen Krankenhaus Rosenhügel in Österreich:

Zusammenfassung aus seinem Vortrag zum Thema Autonomie unter den Bedingungen der Entwicklungsbeeinträchtigung

(Gesellschaft für Neuropädiatrie 1997)

 

Entwicklung – auch motorische Entwicklung – ist als bio-psycho-sozialer Prozeß zu verstehen.

Die Eigenaktivität des Kindes trägt jeden therapeutischen Prozeß.

Das Leben behinderter Kinder ist so normal wie möglich zu gestalten.

 

Meine Damen und Herren,

unter der Vorgabe, daß wir bei allem guten Willen nicht vergessen, daß auch unser Therapiemedium das Pferd ein Lebewesen ist, und es nicht zum "Hilfsmittel" verkommt; kann sich die Hippotherapie wirtschaftlich, therapeutisch wie auch unter ganzheitlichen Gesichtspunkten in der Rehabilitation von neurologisch erkrankten Kindern behaupten

 

Peter Holzmüller

ltd. Krankengymnast

Neuropädiatrie Behandlungszentrum Vogtareuth