Die Kinder im Pferch

~ eine Reise zu den "unnützen" Kindern Rumäniens ~

 


 

Es war wie der Eintritt in ein anderes Zeitalter, als ich am 07. Mai 2000 im Schoß von Gyermekmentö(1) die Ungarisch - Rumänischen - Grenzanlagen durchfuhr. Je tiefer wir dann in Richtung Transsilvanien (Siebenbürgen) vordrangen, desto mehr schien die Zeit still zu stehen oder gar rückwärts zu laufen. Ironischerweise mussten wir unsere Uhren eine Stunde vorstellen.

Das erste Ziel unseres Teams(2) war das größte Kinderkrankenhaus Rumäniens in der grenznahen Stadt Oradea, auch Großwarden genannt. Die Ärzte von Gyermekmentö hielten dort Weiterbildungsvorträge für die dortigen Rumänischen Kollegen.

Am gleichen Tag noch sollte ich den eigentlichen Anlass für die Gründung von Gyermekmentö persönlich in Augenschein nehmen - die Kinder von Cighid(3)

 

Stimmte mich der Anblick und soziale Zustand der Ünachdenklich, berlebenden von Cighid schon traurig und und das Dr. Péter Edvi 10 Jahre nach der Intervention durch und seinen Freunden, so ließ mich die hölzerne Gegenwärtigkeit der "er-storbenen" Kinder am Cighid Friedhof von Ghiorac innerlich erstarren.

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Es war und ist einfach unfassbar, lauter kleine weiße Holzkreuze, eingepfercht von den Gittern der Betten, zwischen denen die Kinder ihr kurzes und doch grausam langes Leben bis zu ihrem Sterben erdulden mußten.

Kaum eines der Kinder wurde älter als 5 Jahre, die meisten mussten ihr "Leben" mit 3 - 4 Jahren beenden.

Dieses tief eingebrannte Bild lies mich dann erst Tage später in Csikszereda(4) unter Tränen die eigentlichen Zusammenhänge der Todesspirale der Kinder im Pferch erkennen.

Elternlose, abgegebene Kinder wurden vom Regime(5) gefordert, von Ärzten und Pflegekräften getragen in Gitterbetten für drei und mehr Jahre desozialisiert und hospitalisiert. Nach der anschließenden staatlichen Unbrauchbarkeitserklärung wurden ihnen dann in Lagern wie Cighid die Lebensgrundlagen entzogen.

Hätte ich es nicht mit eigenen Augen fühlen müssen, ich hätte es nicht geglaubt. Es gibt sie noch, nicht die Lager, aber die Betten, welche elternlose Kinder in Hospitälern für Monate und noch bis zu Jahren beherbergen. Weil Kinder ohne Eltern keine Papiere haben, weil Kinder ohne Papiere nicht an Heime oder Pflegefamilien abgegeben werden können, weil dortige Verwaltungen rigide sind, weil Kinder nichts wert sind.

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Aus diesen Gründen werden diese Kinder auch nicht gefördert, sie kommen nicht in vorhandene Spielzimmer, es kommt niemand zum Reden und Spielen, lediglich zum Wickeln, zum Tränken und Füttern.

So bekommt die Welt besehen aus den Gitterbetten Streifen, hässliche eiserne Stäbe, die auf den Seelen dieser ursprünglich gesunden Kinder tiefe Schatten hinterlassen.

Die Tätigkeit im Regierungsbezirk Csik am Rande der Hargita(6) umfasste in der folgenden Woche neben der Betreuung der Waisenkinder in den Pflegefamilien(7) auch Reihenuntersuchungen an Schulen(7), Kindergärten(7) und Wohngruppen(7), sowie die Beratung von Eltern mit in einer alle 6 Monate stattfindenden neuropädiatrischen Ambulanz(7).

Der bei den Reihenuntersuchungen deutlich gewordene Entwicklungs- und Gesundheitszustand der Kinder offenbarte noch immer welche geringe Wertschätzung das Regime Jahrzehnte lang dem nach Belieben zu reproduzierenden Produkt Kind entgegengebracht hatte.

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Sicher die Armut einer Nation trägt dazu bei, aber sie darf keine Generalabsolution für die körperliche, hygienische, soziale und kulturelle Verwahrlosung von Kindern sein.

Die Kinder - die Basis einer Volksgemeinschaft - als Ansatzpunkt für einen nachhaltigen Wandel, eine Wende, und genau da setzt Gyermekmentö(8) an.

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Noch nie hat mich in meinem Leben eine Situation so tief und nachhaltig betroffen wie die der Kinder in Transsilvanien und Cighid. Dem zum Trotz habe ich aber auch noch nie so viele hoffnungsvolle Kinderaugen und eine so tiefe Befriedigung in der eigenen Arbeit gespürt.

Was nun meine eigene Tätigkeit betrifft möchte ich diese kurz beschreiben.

In der Poliklinik von Csikszereda besuchte ich die Physikalische Abteilung für eine kurze Bestandsaufnahme. Meine Eindrücke wurden mit dem Team besprochen und fließen in zukünftige Planungen ein. Was konkret Fortbildung und materielle Unterstützung bedeutet.

Bei den Pflegefamilien wurde ich neben der Unterstützung bei den Untersuchungen hauptsächlich therapeutisch beratend tätig. Wobei es sich auf Grund der gegebenen Umstände auf sehr basale Hilfe wie z.B. Handling, Unterstützung bei ADL, einfache Stimulationen, primitive Hilfsmittel im Eigenbau und ähnliches beschränken musste.

Bei den Reihenuntersuchungen(9) übernahm ich den neurologischen Teil der Untersuchung und je nach Verfügbarkeit des Orthopäden auch diesen Teil. So untersuchten wir an zwei Tagen ca. 300 Mädchen und Jungen in einem Alter von 4 bis 14 Jahren.

In der Neuropädiatrischen Ambulanz untersuchte ich gemeinsam mit dem Kinderneurologen Dr. Büki neuropädiatrische Problemkinder zur Diagnosestellung und wir versuchten dann im Bedarfsfall den Eltern mit einfachen Anregungen Hilfestellungen für das tägliche Leben an die Hand zu geben.

Was mich zunächst verwundert, dann gefreut und beflügelt hat, war dass es zumindest wirtschaftlich weit weg von Vogtareuth auch ein Team gibt, ohne Standesdünkel getragen von gegenseitiger Wertschätzung. Das versucht, quasi im "Laub´schen" Sinne den Kindern nicht isoliert sondern "systemisch" in ihrem sozio-kulturellen Umfeld zu helfen.

 

 

Peter Holzmüller

 


 

Erläuterungen:

  1. Ungarische Bezeichnung für Kinderrettung; damit gemeint ist die Organisation "Internationaler Kinderrettungs Verband", dessen Hauptsitz in Budapest (Ungarn) liegt, aber Filialen in Österreich und Deutschland hat. (Terez krt. 24.I./1., 1066 Budapest - Telefon: 0036-1-331-0906, Email: ikr@gyermekmento.hu )
  2. Das Team bestand aus einem Gynäkologen, einem Neuropädiater, einem Dermatologen, einer Kinderärztin, einem Kinderorthopäden, zwei Zahnärzten, einem Physiotherapeuten, vier Fahrern, der Chefsekretärin von Gyermekmento, dem Oraganisator Dr. Péter Edvi. Kurzzeitig wurde das Team noch von einer Kinderpsychologin und einem Kinderchirurgen verstärkt. Mich ausgenommen kamen allesamt aus Ungarn. Zwei Rumäninnen kümmern sich vor Ort um die Vor- und Nachbereitung der Aktionen.
  3. 1990 wurde die Weltöffentlichkeit durch Berichte von den Zeitschriften Spiegel (13/1990), Stern und in Folge von der gesamten Weltpresse über die Zustände in Rumänischen Kinderlagern erschüttert. Titel des Spiegel: "Die Kinder von Cighid".
  4. auch Szeklerburg genannt, eine Kreisstadt auf einer Höhe von 900m in den Ostkarpaten
  5. Aus: "Personen der Weltgeschichte"
    Dem Westen erschien Rumäniens Staats- und Parteichef Nicolae Ceausescu aus Scornicesti, geboren am 26. Januar
    1918 lange als mutiger Opponent Moskaus. Er war 1936 in die KP eingetreten, 1945 in das ZK und 1955 ins Politbüro aufgenommen worden und herrschte seit 1965 unumschränkt im Donaustaat. Dabei scheute er sich nicht, 1968 dem Einmarsch in die CSSR fernzubleiben und sie zu verurteilen oder in der Frage ehemals rumänischer Gebiete gegenüber der UdSSR nationalistische Töne anzuschlagen.
    Über soviel Courage übersahen viele, daß der "Conducator" im eigenen Land einen Stalinismus übelster Sorte praktizierte. Erst als seine brutale Kollektivierungspolitik die Dörfer der deutschen und ungarischen Minderheiten bedrohte, wurde man weltweit aufmerksam auf die menschenverachtende Mißwirtschaft des Diktators, dessen Familienclan das Land schamlos ausbeutete und durch die Geheimpolizei "Securitate" in Schach hielt.
    Im Zuge der Wandlungen im ehemaligen Ostblock durch die Reformpolitik des sowjetischen KP-Chefs Gorbatschow begann es jedoch auch in Rumänien zu gären.
    1989 kochte der Volkszorn über und fegte das korrupte Regime Ceausescus hinweg. Er wurde zusammen mit seiner Frau am 25. Dezember 1989 nach einem Militärgerichtsverfahren erschossen.
  6. ein ca. 1600m hohes Gebirgsmassiv in den Karpaten, das Csik gegen Westrumänien abschirmt
  7. Ergebniss der zehnjährigen Arbeit von Gyermekmentö
  8. Näheres über die Beweggründe die zur Gründung führten und über die Arbeit von Gyermekmentö erfahren sie in dem noch folgendem Interview mir Dr. Péter Edvi
  9. dermatologisch, allgemein pädiatrisch, neurologisch und orthopädisch

 

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